In einem früheren Beitrag habe ich schon einmal das Thema erwähnt, mit dem ich mich an dieser Stelle etwas ausführlicher beschäftigen möchte: Es geht um die so genannten Tags.
Der aus dem Englischen stammende Begriff bedeutet im hier relevanten Zusammenhang Markierung, und bezeichnet die Signaturen der Writer. Dabei handelt es sich – wenn man so will – um Unterschriften, die das selbstgewählte Pseudonym des Künstlers zum Inhalt haben. Diese Tags können in oder neben Bildern stehen, aber auch als Solisten auftreten. Außerdem gibt es Verdichtungen in Form von Ensembles.
In der Realität können Tags auf jeder Oberfläche erscheinen. In der Mehrzahl der Fälle handelt es sich aber um Farbaufträge, die mit Hilfe von Sprühdosen, Filzstiften, Kreide, Pinseln, Farbflaschen etc. aufgebracht werden. Diese Objekte sind hier Gegenstand der Betrachtung.
Seltenere Formen wie Ritzungen in Holz, Glas oder Stein, sowie Varianten, die mit Klebeband, Montageschaum oder gar der Hilfe von Feuerlöschern aufgebracht werden, seien hier nur am Rande erwähnt.
Grundsätzlich bewegt sich die gesamte Kunst im öffentlichen Raum, sofern sie unter den Begriff Urban-Art fällt, was für Graffiti, Street-Art und natürlich auch für Tags gilt, in einer rechtlichen Grauzone. Der Umstand der illegalen Entstehung dieser Werke ist mir bekannt, hier aber nicht Gegenstand der Betrachtung.
Gegenstand der Betrachtung ist die Art und Weise der Ausführung bzw. die Erscheinung dieser Objekte, so wie sie sich dem Auge des Betrachters präsentieren.
Um eine größere Zahl an Bildbeispielen als in den bisherigen Beiträgen zeigen zu können, habe ich diesmal Collagen aus zahlreichen Tags eingefügt. So kann die Bezugnahme im Text unmittelbar mit dem darunter stehenden Bild in Verbindung gebracht werden, ohne erst ins Album wechseln zu müssen.
Bild 07 Tags Collage 01.jpg
http://www.macmini-forum.de/gallery/image.php?album_id=46&image_id=1993
Zu meinen Favoriten in diesem Genre zählt neben den »Beach Boys«, »Ink«, »Shimo« und »Barto« ohne Zweifel »Demo«. Auch wenn sein Tag, welches links im Bild zu sehen ist, auf den ersten Blick roh und grob ausgeführt erscheint, muss man sich vorstellen, dass es in großer Zahl, in immer gleicher Art ausgeführt, auftaucht. Das Objekt verfügt also über eine absichtsvolle Gestalt. Einen spezifischen Duktus.
Bei genauerer Betrachtung sieht man, dass die aneinander gedrängten Buchstaben zur Mitte hin einen kontinuierlichen Anstieg zeigen, der danach in einem – geometrisch ähnlichen – Abstieg ausläuft. Die gesamte Form lässt sich von einer elliptischen Form umschreiben (unten links) oder von einem gleichseitigen Dreieck, dem ein kreisförmiges Element angedockt ist (unten Mitte).
Die Signatur von »Der Herr und sein Knecht« (auf Blau, rechts) lässt sich als eine Schar von Vertikalen deuten, deren Anzahl sich nach unten hin reduziert. Ein abwärts gerichteter Keil, oder ein auf der Spitze stehendes Dreieck, wenn man so will (vgl. Abbildung unten rechts).
Bild 06 Tags Transformer 01.jpg
http://www.macmini-forum.de/gallery/image.php?album_id=46&image_id=1992
Der an sich unspektakuläre Schriftzug von »Netz« (links oben) zeigt in der Geometrie ebenfalls einen diagonal gerichteten Keil (siehe Abbildung links unten). Dadurch – ob nun beabsichtigt oder nicht – vermittelt das Objekt einen gewissen Nachdruck, der als solcher wiederum zweifellos in der Absicht des Künstlers liegt.
Ein Sonderfall ist der Schriftzug von »Shimo«, weil er ganz und gar das zeigt, was er selbst ist: Ein Fluss. Dieser Fluss ist horizontal in der handschrift-ähnlichen, gestreckten Typografie, dem nach rechts gerichteten Pfeil, der aus dem »O« herauswächst, der abgetreppten Unterstreichung, sowie – vertikal – in den herauslaufenden Nasen verwirklicht (vgl. Abbildung Mitte oben).
Man soll sich hier nicht von den Lauf-Nasen, die ja oft als mangelnde Beherrschung des Mediums betrachtet werden, täuschen lassen: »Shimo« ist ein routinierter Writer. Da läuft nix, wenn er es nicht so haben will.
Aber auch hier und das gilt für die Signatur von »Cage« genauso (vgl. Abb. rechts oben), sehen wir einen nach rechts gerichteten Keil (Abbildung Mitte unten), ein Dreieck, welches das Objekt in seiner Gesamtheit umschließt (Abbildung rechts unten).
Bild 05 Tags Transformer 02.jpg
http://www.macmini-forum.de/gallery/image.php?album_id=46&image_id=1991
Man mag sich vielleicht wundern und die Bezüge, die hier zur Geometrie hergestellt werden, zunächst für abwegig halten. Wenn wir aber die lateinische Schrift genauer betrachten (bei der griechischen ist es noch deutlicher, weil die wenigsten sie lesen können), sehen wir, dass sie sich aus Geraden und Gebogenen zusammensetzt. Dabei haben die Buchstaben »I«, »S«, und »O« eine Sonderstellung, weil sie jeweils nur eine der geometrischen Eigenschaften – sozusagen in ihrer Rein-Form – aufweisen. Das »C« gehört ebenfalls in diese Reihe.
Ausserdem ist es in unserem Kulturkreis weitgehend üblich, Namen mit einem großgeschriebenen Initial zu beginnen, dem kleiner geschriebene Buchstaben folgen. Ein keilförmiger Abstieg also, womit wir wieder bei der Geometrie wären.
Was ich damit sagen möchte ist, dass geometrische Kompositionen (vulgo: Buchstaben) in der Kombination ebenfalls geometrische Objekte hervorbringen. Ein Schluss, der in diesem Zusammenhang wenig überraschend erscheinen wird…
Allerdings – und das wäre der feine Unterschied – ergeben sie um so eher geometrische Objekte, wie der Künstler sich von dem eigentlichen Inhalt (der Bedeutung, dem Code) der Buchstaben löst, und je mehr er die gestalterische Ausformung derselben ins Auge fasst.
Man kann Tags demnach als ein Glied zwischen inhaltsdominierter Schrift und formbestimmtem Bild betrachten. Anders ausgedrückt: Tags sind Schrift auf dem Sprung zur Kunst.
Ein gutes Beispiel eines linearen Schriftzugs, der sich wegen seiner inhaltlichen Dominanz auf Distanz zur Geometrie hält, ist der Tag von »Foim«. Zwar findet der (in diesem Beispiel, siehe Bild links) vorangestellte Pfeil eine Entsprechung in der gestreckten Erscheinung des Namens, aber die gekurvten Anteile der Schrift wirken hinzugefügt. Man kann sagen, sie wirken hinzugefügt, weil sie hinzugefügt sind und keine unmittelbare Einheit mit den anderen Objekten bilden.
Daran gibt es grundsätzlich natürlich nichts auszusetzen. Jeder formuliert eben den Ausdruck, der ihm nahe liegt. Was mich aber überrascht und weswegen ich hier darauf hinweise, ist die Tatsache, dass gerade die Bilder von »Foim« (z.B. Vienna-Style) fließende, dynamische Formen aufweisen, die sehr künstlerisch sind. Dagegen zeigt die Signatur allerdings etwas, was dem Kölner U-Bahn Bau eindeutig fehlt: Stabilität. Eine Qualität also, die man nicht unterschätzen sollte.
Den »Beach Boys« ist mit ihrem Tag hingegen ein Signet von bestechender Prägnanz gelungen (vgl. Bild rechts). Es zählt neben den Tags von »Demo« und »Ink« für mich zu den schönsten. Hier ist die teils ineinander fliessende Schrift in eine angedeutete Kastenform gesetzt und durch ein eigenwilliges, hakenförmiges Ausrufezeichen ergänzt.
Bild 04 Tags Signets 01.jpg
http://www.macmini-forum.de/gallery/image.php?album_id=46&image_id=1990
»Mail« (Abb. oben links) geht einen anderen Weg. Man könnte sagen, er sucht die Diversifikation in der Uniformität, was ihm mit seiner schwungvollen Schlaufenschrift auch ganz hervorragend gelungen ist. Wir haben es hier mit einem hochdynamischen, schlaufenförmigen Objekt zu tun, welches den Inhalt in seiner Form versteckt, aber – dennoch – decodierbar bleibt. Das ist sehr ungewöhnlich. In ihrer komprimierten, zentrierten Form lässt sich die Signatur in ein Quadrat einschreiben (siehe Bild unten links) und zählt damit zu den zentralsymmetrischen Objekten.
Einmalig in ihrer oszillierenden Form ist die Signatur von »Ink« (vgl. Abb. oben rechts). Mit ihren symmetrisch ansteigenden Ausschlägen zeichnet sie einen, im Vertikalstrich des »K« endenden, scharfen Keil, dessen Prägnanz durch die diagonale Unterstreichung betont wird. Eine weitere Verstärkung erreicht dieses Objekt durch die Überlagerung mit einer zweiten Farbe und die Hinterlegung mit Schatten-Elementen. Diese Form lässt sich auch durch zwei nach links gerichtete Dreiecke unterschiedlicher Dimension beschreiben (siehe Abb. unten rechts).
Bild 03 Tags Transformer 03.jpg
http://www.macmini-forum.de/gallery/image.php?album_id=46&image_id=1989
Dem elliptischen Muster folgen – durch die Verwirklichung eines Binnenanstiegs – die Tags von »Hate« (siehe Abb. links oben und unten) und »Mex« (Abb. rechts oben und unten). Wobei auch letzterer ausschließlich Zeichen mit linearen Elementen verwendet. Durch Zeichenkontraktionen wird ein größerer Zusammenhalt, eine Verdichtung erreicht.
Bild 02 Tags Transformer 04.jpg
http://www.macmini-forum.de/gallery/image.php?album_id=46&image_id=1988
Abschließend möchte ich noch auf die Signatur von »Barto« eingehen. Jedem einzelnen Zeichen ist hier eine sehr individuelle Ausformulierung zugestanden worden, die in der bildhaften Gestaltung des »O« ihren originellen und sehr sympathischen Ausdruck findet (Abb. oben links).
In den Ensembles wird deutlich, dass eine Verdichtung der Tags in abgestufter Intensität zu einer Dominanz der Textur führt, die den einzelnen Schriftzug im Gewebe seiner Gesamtheit beinahe verschwinden lässt (vgl. die Ensembles unten links). Selbst farbige Akzente werden mehr als Gewichtung, denn als individuelles In-Erscheinung-Treten wahrgenommen. Auch wenn man aufgrund des hingeschmiert erscheinenden, roten Schriftzuges von »CME« (Abb. rechts) vielleicht nicht gleich drauf kommt: In Punkto Typografie zählen sie zu den bedeutenden Erfindern…
Bild 01 Tags Ensembles 01.jpg
http://www.macmini-forum.de/gallery/image.php?album_id=46&image_id=1987
Wir kommen zum Schluss: Wer – nach meinen Ausführungen – Tags immer noch unbedingt für Geschmier halten möchte, soll es tun. Schließlich ist Jupiter kein Missionar. Soweit die Worte zur Schrift. :signs:
Sämtliche Bilder gibt’s – wie immer mit kurzer Erläuterung – auch im Album.